Patentöchter. Im Schatten der RAF – ein Dialog von Julia Albrecht und Corinna Ponto

Der Terror der so genannten bleiernen Zeit und die Rote Armee Fraktion (RAF) ist in Deutschland ein recht stiefmütterlich behandeltes Kapitel der deutschen Geschichte. Filme wie „Der Baader-Meinhof Komplex“ kratzen bestenfalls an der Oberfläche dieses hochkomplexen Themas und während sich die meisten geschichtlichen Dokumentationen mit dem Zweiten Weltkrieg beschäftigen, bleibt der Terror der neueren Zeit zumeist unangetastet. Dabei könnte sich gerade hier die Aufarbeitung und Darstellung so einfach gestalten, vor allem wenn man bedenkt, dass hier der seltene Fall vorliegt, dass viele der wesentlichen Akteure noch am Leben sind.

Patentöchter: Im Schatten der RAF – ein Dialog“ ist der Versuch von Julia Albrecht und Corinna Ponto in einer Art Briefdialog das Schweigen und das Unwissen über diese Zeit zu durchbrechen. Der Titel mag auf den ersten Blick, zumindest für alle jene, die mit dem Namen der Autorinnen (wie ich übrigens zunächst auch) nicht vertraut sind, ein wenig unpassend wirken. Doch schnell wird klar, dass es eigentlich der persönlichste und klarste Titel ist, den das Autorinnenduo hätte wählen können. Denn es geht nicht um geschichtliche Akkuratheit und Objektivität. Das Gegenteil ist der Fall: Die Gefühle und persönlichen Erlebnisse der Protagonistinnen stehen im Vordergrund.

Aber zunächst einmal zum Inhalt:

Eines der aufsehenerregendsten Verbrechen, das jemals von Mitgliedern der linksextremistischen RAF verübt wurde, war der Mord an dem Vorstandssprecher der Dresdner Bank Jürgen Ponto am 30. Juli 1977 in dessen eigenem Haus vor den Augen seiner Frau Ignes Ponto. Eine der Drahtzieherinnen des Mordkomplotts war das jahrelange RAF-Mitglied Susanne Albrecht. Besonders schrecklich wird die Tat schließlich mit dem Hintergrundwissen, dass Jürgen Ponto und Susanne Albrechts Vater Hans-Christian Albrecht seit dem Studium eng miteinander befreundet waren und sie auch die Patenonkel der Töchter des jeweils anderen waren. Die Mörder fanden also Zugang zum Haus der Pontos unter Vortäuschung eines freundschaftlichen Besuchs der Patentochter. Die Familien brachen nach der Schreckenstat naturgemäß den Kontakt zueinander ab. Die beiden Autorinnen sind nun Julia Albrecht, die jüngere Schwester Susanne Albrechts und ebenfalls Patentochter von Jürgen Ponto, sowie Corinna Ponto, die Tochter des Ermordeten.

Der Kontakt zwischen den beiden Frauen kam schließlich im Jahre 2007 zustande, nachdem Julia Albrecht, nach eigener Aussage, ein Statement von Corinna Ponto zu diesem Vorfall in einem Buch gelesen hatte. Ihr erster zögerlicher Brief wurde prompt beantwortet und zwischen den Frauen entwickelte sich ein Dialog, der in einem Treffen endete und schließlich zur Idee eines gemeinsamen Buches wurde. In diesem Buch beschreiben die beiden jeweils ihre Sicht der Dinge auf die Ermordung Jürgen Pontos, die für die eine den Verlust des geliebten Vaters, für die andere den der bewunderten Schwester bedeutete.

Begonnen mit dem Attentat selbst schildern die beiden Frauen abwechselnd in kurzen Briefen wie die RAF von da an ihre Leben bestimmte und wie sie sich eben genau dagegen zur Wehr setzten. Der Bogen der Geschichte wird so über 30 Jahre Zeitgeschichte gespannt, von der Tat selbst, über das Leben damit, die Verhaftung Susanne Albrechts 13 Jahre danach bis hin zu den Nachwirkungen auf die gegenwärtigen Leben der beiden Frauen.

Interessant ist das Buch in erster Linie dadurch, dass es sich nicht bloß auf die Ereignisse rund um das Attentat an sich bezieht, sondern wie sowohl die Opfer- als auch – in Ermangelung eines besseren Wortes – Täterseite mit dem Verbrechen umging. Es findet eine mitreißende psychologische Aufarbeitung der Tat statt. Corinna Ponto schildert den Schrecken und die Verzweiflung. Die Tat bezeichnete für die damals 20-Jährige das Ende einer unbeschwerten Jugend. Ignes Ponto wanderte nach dem Mord mit ihren beiden Kindern in die USA aus. Corinna erzählt warum sie dennoch keine zwei Jahre später nach Deutschland zurückkehrte und wie sie mit der ständigen Verharmlosung und oft auch heimlichen Gutheißung der RAF-Terrorakte umging. Doch auch Julia Albrecht schildert lebensnah wie sie als damals 13-Jährige mit dem Verschwinden und der Tat ihrer Schwester fertig wurde. Wie sie unbedingt mit jemandem darüber reden wollte, dieses Verlangen aber von keinem Erwachsenen oder Schulfreund in ihrer Umgebung geteilt wurde, wie die Familie Albrecht immer wieder Entschuldigungen für die kriminelle Tochter suchte. Trotz des erdrückenden Wissens um die Schreckenstat sehnte sich der Teenager immer noch nach der geliebten Schwester und musste mit ansehen, wie sie von ihrem Umfeld in eine Art „Nicht-Identität“ gedrängt wurde. Plötzlich war sie nicht mehr Julia Albrecht, sondern nur noch die Schwester einer polizeilich gesuchten Terroristin. Sie erzählt wie sie, als Susanne Albrecht 13 Jahre nach dem Mord endlich in der DDR gefasst wurde, endlich auf die lang ersehnten Antworten hoffte, die sie aber niemals bekam. Sie schildert den Schmerz, den sie Empfand, als sie bemerkte, dass Susanne sie praktisch aus ihrem Leben gelöscht hatte und die wachsende Erkenntnis, als sie nach Jahren des Schönredens begreifen musste, dass ihre Schwester die Tat freiwillig begangen hat. Außerdem bezieht sie Stellung zu dem immer wieder geäußerten Vorwurf, ihre Eltern hätten die Pontos vor den extremistischen Bestrebungen Susannes warnen sollen.

Es ist ein Roman, der die eigentlichen „Opfer/Täter“-Grenzen aufbricht und das Leid beider Seiten behandelt. Beide Frauen sind in gewisser Hinsicht Opfer, wenn man „Opfer“ als jemanden definiert, der von schrecklichen Ereignissen heimgesucht wurde, an welchenman keine Schuld trägt und/oder auf die man keinen Einfluss hatte. Nichtsdestotrotz kann sich natürlich Corinna Ponto mehr Freiheiten erlauben. Dennoch fürchtet sich Julia Albrecht, auch wenn sie die Taten ihrer großen Schwester mit keinem Wort zu bagatellisieren oder gar zu rechtfertigen versucht, nicht davor, darauf zu bestehen, Susanne als Mensch und nicht als Monster zu sehen.

Stilistisch gesehen handelt es sich um einen Briefroman. Beide Frauen tauschen abwechselnd ihre jeweiligen Gedanken zu einem Thema aus. Der Leser bekommt immer Einblick in beide Seiten.

Obgleich historische Objektivität in dem Roman hinter die Gefühlswelten der beiden Frauen tritt, machen Corinna Ponto und Julia Albrecht keinen Hehl daraus, dass sie sich erhoffen, ein wenig mit den Halbwahrheiten rund um die Tat und um die gesamte RAF aufräumen zu können. Vor allem Corinna Ponto schreckt nicht davor zurück auch brisante Fragen aufzuwerfen. Warum sind beispielsweise manche Akten die RAF betreffend noch bis 2063 gesperrt? Wie genau hatte die Stasi ihre Finger bei so manchen terroristischen Aktionen ihre Finger im Spiel? So dient das Buch letztlich der Aufklärung in einem der oft unbeachtetsten düsteren Kapitel der deutschen Geschichte, aber auch der persönlichen Reinigung von Altlasten für die beiden Autorinnen.

Erst wenn wir in der noch ausstehenden Aufklärung über den RAF-Ost-West-Komplex vorangekommen sind, können wir anfangen, über ein – auch bei anderen Geschichtswunden politisch bewährtes – ››Erinnern und Versöhnen‹‹ nachzudenken. ››Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar‹‹ (Ingeborg Bachmann). Dies muss der Maßstab sein und kann Hoffnung geben.“1

Dieser Satz könnte das Leitmotiv des gesamten Buches sein.

Taschenbuch: 224 Seiten
Verlag: Goldmann Verlag (20. August 2012)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3442157137
ISBN-13: 978-3442157136

 
Rezension von Evelyn Kraut                                                                                                               

1Julia Albrecht/Ponto Corinna, Patentöchter. Im Schatten der RAF – ein Dialog, München: Wilhelm Goldmann Verlag, 2012, S. 209

                                                                                           

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